Montag, 3. September 2012

Geschichte kurios: Toter Hanse-Ratsherr stimmt ab

Wer die Stralsunder Altstadt besichtigt, kommt am Wulflam-Haus (Mitte) am alten Markt nicht vorbei. Als ein Vertreter der mittelalterlichen Backsteingotik ist es der wohl protzigste erhaltene Patrizierbau aus der Hansezeit, den die Stadt zu bieten hat. An Bertram Wulflam, im 14. Jahrhundert berühmt-berüchtigter Bürgermeister, scheiden sich bis heute die Geister.



Wulflam war ein erfolgreicher und mächtiger Kaufmann, und so wurde er 1362 in den Stralsunder Rat gewählt und zwei Jahre später Bürgermeister. Die Regel, dass nur die altgedientesten Ratsherren Bürgermeister werden konnten, wurde für ihn eigens außer Kraft gesetzt. Stralsund war zu jener Zeit nach Lübeck die mächtigste und reichste Stadt der Hanse; das Zentrum des gewinnträchtigen Seehandels mit Russland und dem Baltikum. Wulflam hatte daran maßgeblichen Anteil; wie er auch einer der militärischen Führer und Unterhändler der Hanse war und deren Macht beständig stärkte. Er war ein harter, machtbewusster und listenreicher Mann und duldete keinen Widerstand. So schaltete und waltete er mehr als zwei Jahrzehnte nach Gutdünken in der Stadt.

In der Bevölkerung murrte man wohl über das harte Regiment, doch ausrichten konnte der einfache Bürger nichts. Doch mit den Jahren kamen mehr und mehr jüngere Männer in den Rat, denen Wulflams selbstherrliches Allmachtsgebaren ein Dorn im Auge war. Ausserdem hatte die Stadt in den Jahren 85 und 86 zwei Expeditionen gegen das Piratenunwesen ausgerichtet. Beide wurden von Wulf, Wulflams ältestem Sohn, geleitet, und waren kostspielige Fehlschläge. So schwand sein Einfluss Stück für Stück. Eine besondere Niederlage für den Ersten Bürgermeister war es, als sein Erzfeind, der (junge) Altermann der Gewandschneidercompagnie, Karsten Sarnow, in den Rat gewählt wurde. Erfolglos hatte Wulflam dies zu verhindern versucht.


Um der Piratenplage Herr zu werden, rüstete Stralsund 1391 abermals eine Flotte aus. Kommandeur war Karsten Sarnow. Einige Monate später kehrten die Schiffe mit etwa hundert gefangenen Piraten heim. Da die Stadt nicht über ausreichend Gefängniskapazität verfügte, wurden die Piraten genauso behandelt, wie sie sonst selbst mit Gefangenen zu verfahren pflegten. Man steckte jeden Mann in eine Tonne mit ausgeschlagenem Boden, im Deckel ein Loch, gerade groß genug, um den Kopf hindurchstecken zu können. Dann wurde eine Stange zwischen den Beinen hindurchgeführt und an der Tonne mit Vorhängeschloss befestigt. Doch lange mußten sie nicht in ihren Ein-Mann-Gefängnissen schmoren. Sie wurden ausnahmslos auf dem Alten Markt hingerichtet.


Karsten Sarnow war nun ein gefeierter Held in der Stadt. Bald darauf  wurde er zum Vierten Bürgermeister gewählt. Nun betrieb er mit seinen Freunden aktiv die Entmachtung des alten „Wolfs“ Wulflam. Wie in alten Zeiten wurde eine zwölfköpfige „Bürgerschaft“ eingesetzt. Sie setzte sich aus den Altermännern der angesehensten Gilden zusammen. Der Rat war dieser Bürgerschaft Rechenschaft schuldig. Dies verstieß jedoch gegen die Gepflogenheiten der Hanse. Schließlich erreichte die Opposition, dass der bisherige Alleinherrscher Wulflam aufgefordert wurde, eine Abrechnung der Stadtkasse für die vergangenen Jahre vorzulegen. Der weigerte sich. Nun erst kam heraus, dass Wuflam die gewaltige Truhe voller Gold seit Jahren in seinem eigenen Haus aufbewahrte.


Der Tag kam heran, an dem der Erste Bürgermeister dem Rat Zeugnis ablegen sollte. Doch in der Nacht zuvor machte er sich mit den Seinen (und der Stadtkasse) von dannen. Der Torwächter wird es nicht gewagt haben, den Zug aufzuhalten. Mit den Wulflams verschwand auch Münzmeister Gildehusen samt Familie. Er wird gewusst haben, warum.


Während sich Wulflam und Gildehusen nach Lübeck absetzten, um die Hanse um Schutz vor den wütenden Stralsundern zu ersuchen, ritten die drei erwachsenen Wulflamsöhne nur bis in die Nachbarstadt Greifswald. Von dort aus schickten sie bald darauf Boten, um über die Rückkehr in die Stadt zu verhandeln.


Der Rat erklärte sich zu Gesprächen bereit, Ort und Zeit wurden festgesetzt. Zwei angesehene Ratsherren erwarteten die drei Wulflams vor den Toren Stralsunds Mit ihnen waren zahlreiche Bürger hinausgeströmt, die es sich nicht entgehen lassen wollten, wie die stolzen Patriziersöhne demütig um Gnade flehen würden. Doch es kam anders. Diejenigen, die gemeint hatten, Wulflams kennen keine Reue, und der Rat hätte besser daran getan, abzulehnen, sollten Recht behalten. Die Unterhändler warteten in der heißen Sonne. Es war ein ungewöhnlich heißer Sommer; das Gras war verdorrt und die Blätter hingen welk an den Bäumen.


Endlich kamen aus Richtung Greifswald Reiter herangesprengt. Sie hielten direkt auf die Ratsherren zu und rissen nach Art von Junkern, die Bauern einschüchtern wollen, erst im letzten Moment die Tiere herum. Die stolzen Ratsherren wurden über und über mit Staub bedeckt.


Ohne vom Pferd zu steigen, schrie Wulf den Deputierten seine Forderungen zu. „Lasst Euch mitteilen“, rief er, dass wir Euch und Euer Kollegium nicht anerkennen!Wir fordern, dass unser Vater wieder als Bürgermeister eingesetzt wird und ihm Genugtuung widerfährt!“ Seine Rede war gespickt mit Flüchen und Schimpfwörtern.


Während Wulf den Abgesandten der Stadt seine Forderungen entgegenschleuderte, jagten seine Brüder zwischen die gaffenden Bürger. Ein Mann kam dabei zu Tode.


Wulf fuhr ungerührt fort: „Solltet Ihr Euch aber weigern, so wisset, dass wir jedem Stralsunder die Fehde ankündigen!“


Doch ihm wurde ruhig und besonnen beschieden: „Euer Vater hat die Stadt freiwillig verlassen. Er kann jederzeit zurückkommen. Aber er muss Rechenschaft ablegen und das Geld herausgeben. Wenn Ihr das nicht anerkennt, reitet fort und stört nicht länger den Frieden unserer Stadt!“


Voller Wut riss Wulflam den linken Handschuh herunter und schleuderte ihn dem Ratsherrn ins Gesicht. Darauf preschten die drei Brüder davon.


Zur gleichen Zeit war es Vater Wulflam gewährt worden, sein Anliegen auf dem Hansetag vorzutragen. Er schilderte, wie die Stralsunder eine Bürgerschaft eingesetzt und den Rat entmachtet hätten. Wie er selber mit dem Tode bedroht worden war und aus der Stadt fliehen musste. Er schilderte die angeblichen Verbrechen der Stadt in glühenden Farben, wobei er natürlich zu erwähnen vergaß, dass er versehentlich die Stadtkasse mitgenommen hatte. Und sein Wort hatte immer noch Gewicht. Ganz nach seinen Wünschen wurde ein Brief an die Stadt aufgesetzt, worin der Rat aufgefordert wurde, Wulflam wieder als Bürgermeister einzusetzen und die Reformen rückgängig zu machen. Andernfalls drohte die Verhansung*.


Karsten Sarnow, ein milder, frommer Mann, aber ohne politischen Weitblick, hatte Wulflams Freunde in ihren Ämtern belassen. Das sollte sich bald rächen. Zunächst einmal beriet die Stadt endlos über einen Antwortbrief. Ein Jahr ging ins Land, der nächste Hansetag kam heran. Verhansung hätte den Ruin der Stadt bedeutet. Zudem waren die Leute unzufrieden, denn es herrschte Not. Zwei Jahre Missernte durch Dürre in Folge, dazu die ständigen Aderlasse durch die wieder erstarkten Piraten, ließen die Menschen murren und zweifeln. So kam es schließlich, dass die Stimmung gegen Bürgermeister  Sarnow kippte. Wulflams Freunde begannen offen dessen Rückkehr zu fordern. Sarnow sah sich unversehens mit allerlei Anfeindungen konfrontiert. Seine Freunde wurden weniger, sein Zuspruch im Rat war dahin. Der Rat fasste endlich den Beschluss, sich dem Willen der Hanse zu unterwerfen. Sarnow, der dies verhindern wollte, wurde festgesetzt. Zwei Jahre, nachdem man ihn als Helden gefeiert hatte,  fiel er als „Feind der Stadt“ dem Richtschwert anheim. Wie ein Verbrecher wurde er vor der Stadt verscharrt. Seine Reformen wurden für Null und nichtig erklärt.


Bertram Wulflam konnte seinen großartigen Triumph nicht mehr auskosten. Er war kurz zuvor in Lübeck gestorben. Seine Söhne liessen den Leichnam nach Pommern transportieren. Bedenkt man die damalige Reisegeschwindigkeit, so kann man sich vorstellen, in welchem Zustand er angekommen sein mag. Daraufhin platzte Wulf Wulflam großspurig in eine Ratsversammlung hinein und forderte seines Vaters Sitz für sich. Dem mochte der Rat jedoch nicht nachkommen. Wulf war weder der geschickte Politiker, wie sein Vater, noch hatte er sich mit seiner unbeherrschten und hochmütigen Art viele Freunde gemacht. Man schlug sein Ansinnen rundweg ab.


Da liess er den Leichnam hereinschaffen und auf den Stuhl setzen. Dabei erklärte er, dass sein Vater für ihn stimme. Der diebische Münzmeister Gildehusen wurde, ebenfalls aus Lübeck zurückgekehrt, wieder in sein Amt eingesetzt. In den nächsten Jahren gab es zum Teil blutige Kämpfe mit den Anhängern der Reformen. Erst 1395 war die Opposition endgültig besiegt, und nun wurde Wulf Wulflam endlich auch Ratsherr und etwas später sogar Bürgermeister.


Wulf war und blieb dünkelhaft und herrschsüchtig. Große politische Erfolge waren ihm ebensowenig beschehrt wie beständiger kaufmännischer Erfolg. Jedoch verstand er es blendend, die Gunst des Hochadels und anderer mächtiger Häupter zu gewinnen. Vermutlich, indem er die Tatsache nutzte, dass solche hohen Herren immer klamm waren.


Als er mit einem ehemals befreundeten rügenschen Edelmann in Fehde geriet und diesen hinterrücks ermorden ließ, war sein Schicksal besiegelt. Dessen Sohn erschlug Wulf und floh; vermutlich zu den Seeräubern. Die wulflamsche Familie verarmte daraufhin rasch.


Eine Sage erzählt noch, dass Margarethe, Wulfs Frau, in den guten Zeiten hartherzig und voller Hochmut gewesen war. Einmal, an einem bitterkalten Wintertag, bat ein alter Bettler um einen Teller warme Suppe. Da wies sie höhnisch auf eine silberne Schüssel, in der ein Knochen für den Hund lag, und forderte den Alten auf, sich den Knochen mit dem Hund zu teilen. Daraufhin schüttelte der traurig den Kopf und sagte: „Eines Tages werdet Ihr nichts weiter als diese silberne Schüssel haben.“


Man hat aber Frau Margarethe, als sie völlig verarmt war, mit einer silbernen Schüssel an der Kirchschwelle sitzen und betteln sehen. Dabei murmelte sie vor sich hin: „Ach, gebt doch der armen reichen Frau.“






* Ausschluß aus der Hanse. Schiffe einer verhansten Stadt durften keine Hansehäfen mehr anlaufen. Rasanter wirtschaftlicher Niedergang wäre die Folge gewesen.